Die Fahrt ins Delirium

Wir lebten damals in einem uralten, ziemlich versifften Haus mit verschimmelten Wänden, das um die Jahrhundertwende mal eine hochmoderne Postkutschenstation gewesen sein soll. Unten drin befand sich ein Kiosk, vor dem sich die Pennerszene der Stadt pünktlich morgens um acht ihr Stelldichein gab, um sich bis Einbruch der Dunkelheit zuzulöten. So gab es also immer, auch wenn man nicht gerade filmte, unterhaltsame Szenen.
 

Mal klingelte es Sturm und Kurt Knüppelmeier, ein honigbärartiger Mittfünfziger, der von seinen Freunden nur zärtlich Knüppi genannt wurde und immer mal wieder behauptete, er hätte den Wankelmotor miterfunden, verlangte nach Unterhaltungslektüre: "Ihr seid doch Studenten! Habt ihr mal `n Buch für mich?"


Mein Zimmer Herbst 1987

Ratzfatz hat das natürlich Formen angenommen, als die abenteuerlichsten Gestalten alle Nase lang neue Lektüre forderten - Bücher, die sie allerdings nur so, zum Angeben, mit sich rumschleppten, aber nie wirklich lasen. Stattdessen durfte man sich jeden neuen Tag Sprüche anhören wie: "Haste Johannes Simmel? `Der Lügner`? Oder gib mir noch so`n Böll, der lügt auch ganz gut!" Wenn man sie fragte, hatten sie jedes Buch, egal, ob sie es gerade erst ausgeborgt hatten, immer schon durch. Glücklicherweise hatten wir zwei Kisten mit hochwertigen Taschenbüchern ("Archipel Gulag", "Ansichten eines Clowns" und so`n Mist) auf dem Dachboden stehen, von denen wir nicht wußten, wer von den Vormietern die da oben vergessen hatte. So ging uns also, zumindest ein paar Wochen lang, die Munition nicht aus.

 

 

Wer wie ich gerne hin und wieder im Fachmagazin "Happy Weekend" blättert (gibts in den einschlägigen Shops), stößt früher oder später unweigerlich auf die Beschreibung einer sexuellen Disziplin, die mit dem Verspeisen von Kot einhergeht. Womit wir bei Hardy, dem Scheißefresser, wären.
Hardy, der Scheißefresser, war ein Vertreter jener Zunft, hatte daher natürlich auch seinen Spitznamen und tauchte eines Tages wie aus dem Nichts am Kiosk auf, um den Leute mit detaillierten Beschreibungen auf den Keks zu gehen. Den guten Hardy muß man sich in etwa so vorstellen: Ende 40, korpulent, Jeans und Lederjacke, dazu trug er Stirnglatze mit Haarkranz. Also wie im Bilderbuch.
Und er leistete, das kann man nicht anders sagen, Überzeugungsarbeit! Als ginge es um sein Leben oder zumindest, als würde er dafür bezahlt. Zu diesem Zwecke wählte er immer wieder die gleichen vier, fünf Einleitungssätze, mit denen er jeden, der ahnungslos stehenblieb, in ein Gespräch verwickelte. Hardy fing immer gleich an: "Das ist menschlich! Das steckt in jedem drinne! Das macht jeder gern! Das möchtest du auch gern machen! Hör zu! Du gibst deiner Frau zwei Wochen lang Mon Cherie..." Ich muß mich dafür entschuldigen, daß in dem Zitat die Namen einer bekannten Fernsehzeitschrift bzw. einer Pralinenmarke vorkommen, aber so wars nunmal. Jedenfalls: Was folgte, war eine ausführliche Beschreibung der Angelegenheit, komplett mit Glastischchen und Silberlöffel. Wie das eben so zugeht bei Hempels unterm Sofa. Und das keineswegs leise oder flüsternd. Dabei konnte er auch schon mal ärgerlich werden, weil ihm ja meist keiner zuhören mochte.

Originalton
aus dem Kiosk
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Als Klaus, der Indianer (der bei uns so hieß, weil er mit seinen langen Haaren wie ein Häuptling aussah) von der Sache Wind bekam, klammerte er sich, sichtlich erschüttert, minutenlang am Türrahmen unseres Hauses fest, um immer wieder die gleiche Litanei vor sich hinzustöhnen: "Scheiße, der frißt Scheiße! Ich fass es nicht! Scheiße, der frißt Scheiße!" Klaus hatte übrigens eine aus allen Nähten platzende, aber herzensgute Freundin, die wie er dem Alkohol innig zugetan war und mit der er jeden Nachmittag, pünktlich um vier, in einem der schrottreifen Autos, die schon seit Ewigkeiten hinten bei uns im Garten standen, die Fahrt ins Delirium antrat. Da saßen sie dann bis in die Dämmerung hinein, Kiste Bier im Kofferraum, in der verrosteten Karre und blickten auf die Brennesseln, in die hin und wieder einer, der vorbeigetorkelt kam, sein Wasser schlug. Denn nur die Elite, Leute wie Knüppi, Fitti oder Topfit, die auch hin und wieder im Kiosk ein wenig zur Hand gingen, durften die Toilette im Haus benutzen. Die lag direkt neben der unseren, weshalb wir auf unserem Klo des öfteren Leutchen antrafen, die dort auf keine Fälle hingehörten, sich aber nun mal im Suff in der Tür geirrt hatten. Und da will man ja nicht so sein.


Vor meiner Zeit, als Hermann Naujoks und Ulrich Bogislav noch meine Vormieter waren, ist es rund um Haus und Kiosk allerdings weit wilder zugegangen. Ihnen war vergönnt, mit ansehen zu dürfen, wie im Garten unter lautem Gejohle ein Zelt aufgeschlagen wurde, in dem sich eine ältere Dame für 5 Mark dem Geschlechtsakt hingab. Ruckzuck bildete sich eine Schlange, denn fast jeder wollte mal drankommen. Nach wenigen Minuten beendete die Polizei das fröhliche Treiben, was bei der älteren Dame auf völliges Unverständnis stieß. Sie lallte immer wieder: "Die müssen auch mal einen stöpseln dürfen, wenn se riemich sind!" Ihre Argumente haben dann bei den Ordnungshütern nicht den gewünschten Eindruck hinterlassen und sie wurde einkassiert.

 

Baron von Lallu

Leider spielen von den erwähnten Damen und Herren nur wenige in DER GLANZ DIESER TAGE mit: Einmal, als mit Wasserpistolen eine Trinkhalle überfallen wird ("Das Wort Gottes soll nicht nur durch die Münder, es soll auch durch die Mündungen verbreitet werden, denn es soll ja im Herzen landen") , ein andermal, als ein Pseudo-Büßer mit Brennesseln ausgepeitscht bzw. ein Kinderfreund mit Zuckerrüben verdroschen wird. Den größten Auftritt allerdings hat Baron von Lallu, der den Orgelspieler spielt.


Baron Lallu singt sein Lieblingslied
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Baron von Lallu, inzwischen um die siebzig und nach wie vor allen Drogen dieser Welt mit Feuereifer zugetan, hat im wirklichen Leben - nach Fremdenlegion und diversen Knastaufenthalten - tatsächlich mal einen ganzen Panzer aus einer Hildesheimer Kaserne geklaut, um damit die damals noch existierende DDR anzugreifen, die ihm wohl ein Dorn im Auge war. Er spukte danach als Köpenick von der Innerste (Fluß durch Hildesheim) durch die Lokalpresse und hat wegen Landesverrats, Amtsanmaßung und was weiß ich noch alles drei Jahre Zuchthaus gekriegt. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen.
Lallu wettet, unten im Kiosk unseres Hauses, mit ein paar anderen Haudegen wie Knüppi, Topfit und Hiroshima, den wir so nannten, weil er aussah, als wäre in seinem Gesicht mal eine Atombombe hochgegangen, daß er sich bei Räer (Laden für Militärbekleidung) eine Generalsuniform holt und dann komplett mit Panzer aus der Kaserne gefegt kommt. Jedenfalls versammeln sich alle mit Kasten Bier und so vor der Kaserne, keiner glaubt dran, daß es klappt, und tatsächlich geht irgendwann das Tor auf und es bietet sich folgendes Bild: Vorneweg Baron von Lallu im Jeep (wird natürlich chauffiert, hat ja keinen Führerschein), dahinter ein richtiger Panzer. Auf gehts Richtung Grenzübergang Helmstedt. In einem Wäldchen kurz vor der Grenze kriegt der Baron dann aber glücklicherweise Muffensausen und setzt sich ab.
Irgendwann haben sie ihn dann gekriegt, und sein erster Gang nach drei Jahren Wasser und Brot führt ihn - die Geschichte ist immer noch authentisch - geradewegs in das Domizil von Heinrich Maria Janssen, zur Zeit dieser Vorfälle noch Bischof von Hildesheim.
Als Orgelspieler in DER GLANZ DIESER TAGE sieht Baron von Lallu relativ harmlos aus, wenn er aber in echt vor einem steht, kann er, wenn er das will, einem schon Angst einjagen. Jedenfalls hat er dem Bischof Angst eingejagt und dafür prompt 300 Mark kassiert, daß er bloß wieder abhaut.



Aus der HAZ vom 20.7.1996

 

Warum ich nie im Leben SPD wählen würde

Überhaupt: Hildesheim! Meine Lieblingsstadt. Welche Stadt hat schon einen Bürgermeister, der wie Omar Sharif aussieht? Der so fotogen ist, daß jeden zweiten Tag ein schönes neues Bild in der Tageszeitung ist? Der es sich nicht nehmen läßt, wenn ein Zirkus in der Stadt gastiert, auf einem waschechten Elefanten in die Manege einzureiten? Und schließlich, in welcher Stadt kann man sich von seinem eigenen Oberbürgermeister operieren lassen? Das gibt es nur in Hildesheim! Denn neben seinen Amtsgeschäften wirkt OB Kurt Machens als Chirurg im Bernwardskrankenhaus. Oder wars das Städtische?


Wahlwerbung in Hildesheim


Kurt Machens ist natürlich CDU. Und nun kommt der Grund, warum ich niemals SPD wählen würde, obwohl ich per Film gerne Werbung für diese Partei mache. Denn in SOMMER DER LIEBE raucht ja der Hippie-Fürst Oleander, um sich anzutörnen, Willy Brandts Nasenhaare ("Darfste nicht zu viel von nehmen, sonst kommste nicht wieder von runter!") , um auf dem Höhepunkt des Rausches auszurufen: "Ich wähle nur noch SPD!"


Eines Tages veranstaltete der Ortsverein Nordstadt dieser feinen Partei eine Begehung ihres Viertels, auf der Suche nach Mißständen. Die gabs zuhauf, z.B. direkt vor unserer Haustür zwei nicht fertiggebaute Brücken, die seit Jahren sinnlos in die Gegend ragten. Jedenfalls druckte ein sonntäglich erscheinendes, hier vielgelesenen Anzeigenblättchen eine Titelstoy, in der ausgerechnet unser Haus - unser geliebtes Haus - als Schandfleck der Nordstadt gebrandmarkt wurde. In der näheren Umgebung unserer Bleibe - da wir dort filmten, könnte man auch sagen, unseres Studios - sei es nicht nur unbeschreiblich schmutzig, sondern es würden sich dort ganze Berge von Schluck- und Kräuterlikörfläschchen finden. Kurz und gut: Die Stadt Hildesheim hatte ein Einsehen, kaufte das Haus und versuchte, uns rauszuschmeißen. Es gab dann noch einen Rechtsstreit mit der Stadt, den wir natürlich haushoch verloren.

 


Und derweil unser Häuschen vor die Hunde ging, gingen das auch einige der feuchtfröhlichen Gesellen, die jahrelang unten im Kiosk dem lieben Gott die Zeit gestohlen hatten. Allen voran ein gewisser Fritze, der vor unseren Augen buchstäblich aus dem Leim ging. Zum Schluß war er schon morgens so hinüber, dass er lallend vor der Haustür lag und mein Schnittmeister, Musik- und Geräuschemacher Iko Schütte ihm aus lauter Mitleid seinen gelben Fernsehsessel schenkte.

Zum Pissen, laufen konnte er irgendwann nicht mehr, haben ihn zwei kräftige Damen, eine davon mit einer Stimme wie ein Blecheimer, regelmäßig aus dem Sessel gehoben und gegen die Hauswand gehalten. Das ist schon drollig, wenn man morgens zum Brötchenholen aus der Haustür tritt und auf leeren Magen mit einem Bild konfrontiert wird, wie es feuchtfröhlicher nicht sein könnte.




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